eine zeitgemäße Weihnachtsgeschichte
Autorin: Stefanie Aufleger
Es begab sich zu jener Zeit, als eine Verordnung der Bund-Länderkonferenz ausging, dass alle Menschen sich solidarisch erklärten und die Ärmel hochkrempelten. Ein, zwei, drei kleine Piekser sollten die pandemische Notlage inter-nationaler Tragweite beenden. Sollten! – Hingegen aller Erwartungen waren die Inzidenzen höher denn je und das Land und die Menschen tiefer gespalten als je zuvor. Obwohl Weihnachten vor der Tür stand, das Fest der Liebe, herrschte große Angst. Wie im letzten Jahr durfte nur im kleinen Kreis gefeiert werden, im Kreise der Familie: mit Abstand, größter Vorsicht und negativ getestet.
Irgendwo in Deutschland machen sich auch heute Menschen auf, um zu ihren Wurzeln zurück zu kehren. Unter ihnen sind Joshua und Marie auf dem Weg, um Jo‘s Familie auf der schwäbischen Alb zu besuchen. Ein wenig bang ist ihnen schon zumute: Marie ist schwanger und Joshua’s Eltern wissen noch nicht, dass sie bald Großeltern werden. „Wir müssen es ihnen schonend beibringen! Das ist kein Thema am Telefon“, hörte man Joshua in den letzten Tage öfters sagen. „Ja, ich weiß“, entgegnet ihm Marie. „Sie sind streng katholisch und besser unglücklich verheiratet als ein Kind unehelich geboren.“
Marie’s Eltern – geschieden! – sind zwar eingeweiht, interessieren sich jedoch wenig für den Nachwuchs. Beide sind mit ihren neuen Partnern vereist und verbringen die Festtage in Übersee. Dankenswerterweise überlässt ihnen Marie’s Mutter ihren ZOE, so kann Joshua zusammen mit seiner jungen Frau (nicht zu verwechseln mit Jungfrau!) im E-Mobil und klimaneutral die Alb bereisen. Für Marie ein wichtiger Punkt, denn sie ist nicht bereit, für den familiären Pflichtbesuch ihres Freundes ihre CO2-Bilanz zu belasten. Und im Zug mit Maske – hochschwanger – keine Option!
Die Fahrt mit dem E-Mobil erweist sich für das Paar gerade als kleine Herausforderung. Seit über einer Stunde suchen die beiden in der schwäbischen Winterlandschaft nach einer Tankstelle. „Marie, wie müssen die Heizung ausmachen, sonst bleiben wir gleich stehen. Wir haben nur noch 12 Prozent.“ –
„Aber mir ist kalt! Ich frier! Wo sind wir hier? Mitten in Sibirien!“ Auf der Alb wird überall gespart, nicht nur an Tankstellen, sondern auch Mobilfunkmasten sind rar. Angestrengt sucht Jo mit Hilfe seiner App nach der nächsten Stromzapfsäule. Die Tankstelle zwar geschlossen, jedoch mit 24-Stunden-Zahlautomat. Hallelujah! Grad nochmals gut gegangen. Joshua steigt aus, studiert die Anleitung am Zapfhahn und startet kurz darauf eine Fluchparade in ursprünglichster schwäbischer Mundart. Marie versteht kein Wort, wundert sich nur über die Sprachgewandtheit ihres Freundes.
„Was ist denn nun? Tankst du endlich?“ –
„Geht nicht! Nur für Mitglieder der Raiffeisen-Genossenschaft. Zum Tanken brauchst du einen extra Schlüssel.“
Nur noch wenige Kilometer von Jo’s Zuhause entfernt, entschließen sie sich, weiterzufahren.
„Schau, da unten ist mein Dorf.“ Friedlich liegt es im Tal vor ihnen und strahlt in die kalte Sternennacht. Der Wagen rollt den Berg hinab, wird immer schneller.
„Jo, kannst du bitte ein bisschen langsamer fahren?“ –
„Ich versuche ja zu bremsen, aber der Motor ist aus!“ Mit der Handbremse bringt er den Wagen zum stehen.
„Scheiße!“, fährt es aus ihm heraus. „Ich ruf‘ meinen Vater an. Er soll uns hier abholen!“ Joshua wählt. Lässt durchklingen. Wählt erneut. Wartet. Wählt erneut.
„Sie sind vermutlich in der Kirche.“ –
„Und auf seinem Handy?“ –
„Mein Vater hat das Handy immer aus, um Strom zu sparen.“ –
„Und deine Mutter?“ –
„Die hat Keines.“ –
„Waaaas?“ Marie ist entsetzt. „Sag mal, geht‘s noch?“ Maries Entsetzen wir durch den grellen Klingelton von Jo Handy unterbrochen. Joshua nimmt den Anruf entgegen:
„Joshua, wo seid ihr? Die Christmette ist bereits vorbei!“, schrillt es aus dem Hörer.
„Ja, Mama, weißt du…“ –
„Wir warten hier mit dem Essen. Du sagtest, dass ihr rechtzeitig losfahren wollt …“ –
„Mama, wir sind rechtzeitig los, aber … Mama? Mama!“
Stille.
Joshua schaut in Maries fragendes Gesicht!
„Akku leer!“ –
„Dann nimm mein Handy!“ –
„Ich weiß die Nummer nicht!“ –
„Dann google sie!“ Joshua versucht eine Verbindung mit dem Internet aufzubauen – vergeblich!
Plötzlich schreit Marie auf:
„Ahhhhhh!“ –
„Marie, was ist los!“ –
„Mich sticht es im Bauch.“ –
„Wir können hier nicht bleiben, es ist zu kalt. Zieh dich an! Da vorn ist irgendwo ein Gasthaus. Wir gehen zu Fuß.“ –
„Was heißt ‚irgendwo‘? Wie weit ist es?“ –
„Marie, ich weiß es auch nicht! Ich war dort zuletzt beim Wandertag als Kind. Hast du eine bessere Idee?“
Tatsächlich! Nur wenige Meter entfernt hinter der Kurve strahlt ihnen die weihnachtliche Beleuchtung des Gasthauses entgegen. „Heute geschlossen!“, steht an der Tür. Joshua klopft und nach wenigen Minuten öffnet der Wirt die Tür.
„Wissed ihr eigentlich scho, dass heit Hoilig Obend isch? Mir hend g‘schlosse! Kennet ihr ned lese?“, raunzt der Wirt die beiden an.
„Verzeihen Sie, wir wollten nur fragen, ob Sie uns helfen können. Meine Freundin ist schwanger und wir suchen einen Platz, um uns aufzuwärmen.“ –
„Seid ihr g’impft?“ –
„Ähm, meine Frau ist schwanger und daher nicht geimpft, und bei mir, tja, mein Handyakku …“ Der Wirt unterbricht Jo barsch:
„Für sodde wie euch hend mir koin Platz. Mir kommet koine Coronaleugner onder‘s Dach.“ –
„Moment, wir sind doch keine…“ –
„Macht, dass ihr hoim kommed. Frohe Weihnachten!“ Und mit der letzten Silbe fällt die Tür ins Schloss.
„Was hat er gesagt?“, fragt Marie. Joshua schüttelt den Kopf, froh, dass Marie die Sprache „d‘r Leut hier“ nicht versteht.
„Wir müssen weiter!“ Marie friert und ihre Schmerzen werden immer stärker. Schweigend laufen sie die Straße entlang durch die stockfinstere Nacht.
„Daaa!“ Joshua zeigt auf ein Licht vor ihnen. Eine Frau mit einem Esel kommt auf sie zu, leuchtet mit ihrer Laterne in ihr Gesicht.
„Was treibet ihr so spät in d’r Nacht?“, fragt sie freundlich.
„Guten Abend, wir hatten eine Autopanne und meine Freundin ist…“ Mehr braucht Joshua nicht zu antworten, dann in diesem Moment platzt Maries Fruchtblase und zwischen ihren Beinen rinnt das Fruchtwasser.
„Jesus, Kind! Du bisch ja schwanger! Komm mit, i helf dir!“ Sie schnappt Marie unter den Armen und läuft mit ihr zum Stall.
„Bring den Esel in den Stall, beeil dich!“, rief sie ihm zu. Marie stöhnt immer lauter. „Bleib ruhig! Wir schaffet des z’amma. Ich hab schon so viele Kälble auf d’Welt g‘holt. Und heut’ hole m‘r dei Christkindle. I bin übrigens d‘Magda. Wie hoischt du?“
Joshua hört Magda aus der Ferne, wie sie versucht, seine Marie zu beruhigen.
„Kerle, beeil‘ di mit dem Esel und renn d‘Straß nauf. Hol d‘r Ahmed! Er soll Bettdecken und Wasser mitbringen. Und au no die LED-Lamp. Los! Schnell!“
Noch nie in seinem Leben fühlte sich Joshua so ohnmächtig, und noch nie war er so froh, eine Aufgabe zu bekommen – und sei es nur durch die Nacht zu rennen, um Hilfe zu holen.
Magda hat derweil für Marie ein Lager bereitet: auf Strohballen mit Decken, die sonst für den Esel da waren. „Woisch, I komm g‘rad aus der Christmette. Unser Charlie, des isch d‘r Esel, hat beim Krippaschpiel mitg‘macht. Mir hatten früher mal mehr Vieh, aber dann ham m‘r umg‘stellt auf Demeter. Von d‘r Landwirtschaft kann m‘r heut ja nemme lebe. Floisch wolle d’Leut fresse, aber zahle d’für – des wolled sie ned!“ Marie liegt auf den Strohballen, Magdas Worte sind für sie Begleitmusik, denn sie steckte schon mit all ihrer Konzentration im Geburtskanal.
„Schön atmen. Woisch, über d’r Atem sind mir älle mit’anand verbunde. Unser Atem isch a G’schenk. Einatmen – ausatmen! Gut mach‘sch du des!“
Maria hat sich ein wenig beruhigt. Magda reicht ihr ihre Trinkflasche. Mit großen Augen starrt Marie sie an.
„Jetzt stell di ned so an! Du musch was trinka, Mädle! I glaub‘ des Virus isch jetzt grad dei kloinschtes Problem!“
Marie greift zur Flache und trinkt – und einen Schluck kommt die nächste Wehe und mit ihr Ahmed und Joshua. Sie bringen Decken und Wasserkanistern in den Stall.
„Mensch, wo bleibed denn ihr?“ –
„Marie, wie geht es dir?“ Joshua stürzt auf seine Freundin zu. „Sollen wir sie nicht ins Krankenhaus bringen?“, fragt er Magda hilflos.
„Willsch du dei Frau umbringe? Des isch jetzt z‘spät! Des Kind kommt! Los, wasch dir deine Händ‘ und hilf!“ –
„Waaaas? Ich habe doch keine Ahnung!“ –
„Des han i scho g‘merkt! No wird‘s Zeit, dass du mal was über s‘Leba lernsch! Los, beeil di! Oder braucht d‘Herr no a schriftliche Einladung!“
Jo‘s kreidebleiches Gesicht im Dunkeln gewinnt auch nicht an Farbe, als Ahmed endlich den LED-Strahler anknipst. Die Stalltür knarzt, herein kommt eine kleine, gebrechliche Frau.
„Anna, di ruft d‘r Himmel!“, begrüßt Magda die Alte. Sie lebt auch auf dem Aussiedlerhof, wie Magda und Ahmed, und hat mitbekommen, dass im Stall eine Geburt bevorsteht. Damit kennt sie sich aus, denn durch die Hände der erfahrenen Hebamme haben schon tausende von Kindern das Licht der Welt erblickt. Auf ihren dünnen Ärmchen liegen Handtücher und Laken. Joshua geht auf die Frau zu. „Kommen Sie, ich nehme ihnen die Handtücher ab!“ –
„Mit der brauchsch nix schwätza. Die isch taub. Und seit a paar Monat au stumm.“
Anna setzt sich neben Marie, legt ihre Hände auf ihren Bauch und drückt. Marie schreit auf!
„Stopp! Was machen sie da?“, rief Joshua. „Sie hat Schmerzen!“ Magda und Anna, beide Frauen werfen Joshua einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Ja, moinsch denn du, dass Kinder kriega des gleiche Vergnüga isch, wie d’Kinder macha?“ Joschua blickt beschämt auf den Boden.
„Los, mach di nützlich. Setz di hinter dei Frau, halt ihr d‘r Kopf. Und du, Bürschle, du hältsch ab sofort dei Gosch!“ Joschua setzt sich auf den Strohballen hinter Marie. Die Pausen zwischen Marie’s Schreie werden kürzer. Ahmed hat derweil auf dem Gaskocher Wasser erwärmt und bringt eine Schale davon zur Geburtsstätte. Anna nickt Magda stumm zu.
„Gut, es geht los!“
Es ist unklar, wieviel Zeit vergangen ist, bis weitere Schreie durch die klirrende Kälte hallen. Das Kind ist da, es ist ein Mädchen. Die junge Frau wurde zur jungen Mutter. Geburt gut überstanden, es ist vollbracht, am heiligen Abend, der Weihnachtsnacht. Der junge Vater steht mit Ahmed vor dem Stall. Auch er ist fertig – mit den Nerven! Jo prostet mit dem selbstgebrannten Obstler seinem neuen Freund zu. Die Nacht hat die beiden Männer zusammengeschweißt, die von ihrem Ursprung nicht verschiedener hätten sein können. Ahmed aus dem Senegal, Jo aus der schwäbischen Provinz – und trotzdem stehen sie sich in dieser Nacht ganz nahe – ungewöhnlich, vor allem in Zeiten von Social Distancing.
Im Stall ist es still geworden. Es kehrt ein wenig gemütliche Atmosphäre ein. Der kleine Petrolofen, den Ahmed fand, wärmt überraschend gut. Außerdem hatte Ahmed die beleuchteten LED-Rentiere aufgebaut, die in Kartons verpackt im Stall lagerten. Weil der Weihnachtsmarkt ausfiel waren sie nutzlos geworden und kommen jetzt doch noch – pünktlich zur Geburt des Christkindes – leuchtend zum Einsatz. Marie ist warm eingepackt, ihre Tochter nuckelt an ihrer Brust.
„Was für eine Nacht“, flüstert Marie Joshua zu. Joshua lächelt.
„Heut Nacht hab i zum ersten Mal die G’schicht vom Stall, mit Kind und Esel kapiert“, murmelt Magda. Und die stumme Anna ergänzt:
„Und heuer isch‘s Chrischtkind a Mädle. Passt doch in unsere Zeit!“ Verwundert blicken alle zu Anna. Sie spricht! Doch keiner erwidert ein Wort in die schweigende Stille hinein.
„Wie soll euer Mädle hoißa?“, fragt Magda. Jo und Marie schauen sich vertraut an und Marie antwortet:
„Sie heißt Anna-Magdalena.“
Magda grinst: „Au des passt in die Zeit! Erst schreit man nach Marias Mutter. Und kurz drauf nach der Frau, die anders dachte, anders liebte, anders war und deshalb zur Außenseiterin wurde.“ Magda bemüht sich, für Marie ihr bestes hochdeutsch zu sprechen. Doch selbst wenn Marie ihre Worte nicht versteht, so lernte sie in jener Nacht die Sprache des Herzens. Die Tränen auf Magdas Wange bringen zudem deutlich zum Ausdruck, was Magda bewegt und was sie schmerzt. Auch sie erfuhr Ausgrenzung und ist erschöpft – von der Nacht, von den Menschen und ihrem Leben.
„Jetzt fehlen nur noch die Hirten“, scherzt Marie.
„Ahja, die kommen gleich. Habe sie angerufen. Mein Handy hat wieder Saft.“ Joshuas Furcht vor seinen Eltern ist gewichen. In dieser Nacht wurde er nicht nur zum Vater, sondern auch zum Mann.
Es klopft an der Stalltür. Ahmed streckt seinen Kopf herein und seine weißen Zähne funkeln aus dem schwarzen Gesicht.
„Guck, da kommet scho‘ die Weisen aus dem Morgenland“, bemerkt die stumme Anna. Mitten im Stall stellt sich Ahmed mit einer demütigen Geste vor die junge Familie und erhebt feierlich seine Stimme:
„Verzeiht, ich komme allein und mit leeren Händen. Unsere Geschenke aus dem Geschäft Bezos haben leider Lieferschwierigkeiten. Sie liegen irgendwo in einem chinesischen Container. Meine zwei Kolleginnen, seit diesem Jahr neu im Amt, lassen sich ebenfalls entschuldigen. Sie stecken fest, weil ihre Länder zum Risikogebiet erklärt wurden. So ist heute Nacht nur der Schwarze Arbeiter treu im Ort und Stalle, denn alle anderen ‚Weißen aus dem Morgenland’ sind in Quarantäne.“
Schallendes Gelächter klingt aus dem Stall und erfüllt die Weihnachtsnacht mit der frohen Geschichte über Solidarität, Menschlichkeit, Nächstenliebe und Freundschaft.
Gesegnete Weihnachten überall – und kommt zur Besinnung ;o)