am 05.01.2023; 11 Uhr auf dem Hauptfriedhof Konstanz
Trauerrednerin: Stefanie Aufleger
Lied 1: Ave Maria (Eingang)
Lied 2: Ich bete an die Macht der Liebe (Zwischenlied)
Lied 3: Von guten Mächten (Abschluss)
Des Menschen Seele gleicht dem Wasser.
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.
So stand es geschrieben in der Traueranzeige, die allen Freunden und Bekannten kund tat: Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied in stiller Trauer.
Abschied von Ingeborg Türy.
Liebe Trauergemeinde,
ich bin Stefanie Aufleger und ich darf heute die Trauerfeier für Ingeborg Türy gestalten. Es ist auch für mich heute ein besonderer Moment. Im Normalfall, wenn ich als freie Rednerin für eine Trauerfeier angefragt werde, treffe ich mich im Vorfeld mit Verwandten, mit Freunden, Bekannten – mit Menschen, die den oder die Verstorbenen kannten.
Heute ist es anders. Ich habe mich zuvor mit niemandem getroffen, mit niemandem besprochen. Keinen erreicht – der mir etwas über die Verstorbene erzählen könnte, das heute in meine Ansprache einfließen würde. Scheinbar gibt es niemanden, der um Ingeborg Türy trauert oder sie gar vermisst.
Das einzige, das ich von ihr weiß, ist, dass sie im Januar 1941 in Tschechien geboren ist und einen Tag vor Heilig Abend in Radolfzell im Pflegeheim ihre Augen schloss. Mehr ist nicht bekannt!
Das hat mich berührt. Diese Situation kannte ich bisher noch nicht. Und auch wenn ich länger darüber nachdenke, dann stimmt mich das sehr traurig, dass Menschen aus unserer Mitte unbemerkt „verschwinden“ können, ohne eine Spur zu hinterlassen mit markantem Profil, die an ihr Leben erinnert.
Umso mehr danke ich euch, dass ihr heute da seid – live und online zugeschaltet – dass ihr meinem Aufruf gefolgt seid und wir heute gemeinsam des erloschenen Lebens gedenken. Was heißt gedenken … wir würdigen es mit unserer Präsenz, mit unseren liebevollen Gedanken und unserem Mitgefühl … auch indem wir uns unserer eigenen Vergänglichkeit bewusst werden.
Heute verabschieden wir uns von Ingeborg Türy, doch unser Abschied und unsere bewusste Trauerarbeit ist stellvertretend für all die vielen vergessenen Seelen, an die keiner denkt, die gefallen sind oder ermordet wurden, die in den letzten Jahren einsam und verlassen hinter dem dicken Vorhang der Pandemie ihren Heimweg antraten, die keiner vermisst, die keinem fehlen und um die keiner trauert.
Wir sind alle EINS. Jeder von uns ist ein Tropfen im großen Weltenmeer und somit Teil des Ganzen!
Wenn ein Teil des Ganzen vergessen wird, dann fühlt sich auch ein Teil von uns unbeachtet, einsam und verloren.
Es gibt eine Krankheit, die viel schlimmer ist, als Corona, Krebs und alles andere Leiden auf der medizinischen Skala. Diese Krankheit heißt EINSAMKEIT. Wie kann es sein, dass so viele Menschen unter uns daran leiden, wenn wir doch im Wesentlichen alle EINS sind? Viele Tropfen im weiten Meer?
Wenn aus unserer Mitte, aus der Gemeinschaft der Menschheitsfamilie ein einzelner herausgerissen wird – oder auch auch im Krieg massenweise Leben vernichtet wird, dann fehlt etwas, was erst wieder neu heranwachsen darf.
Dann ist da eine Lücke, die erst wieder geschlossen werden muss, um die Reihen – auch die Ahnenreihen – zu füllen.
Dann klafft da eine tiefe Wunde, die erst heilen muss, damit wir als kollektives Bewusstsein keinen Mangel erleiden.
Vielleicht vermissen wir nicht den einzelnen Menschen, weil wir ihn gar nicht kennen. Aber etwas in uns wird sich einsam fühlen.
Unsere gesellschaftliche Ordnung kommt in Unordnung, muss neu sortiert werden. Unsere Menschheitsfamilie leidet und sucht nach neuer Verbundenheit (auch Verbündeten, Verbindlichkeiten, etc.) Erst dann können wir alle wieder friedlich und erfüllt zusammenleben.
Liebe Trauergemeinde, ist uns das bewußt? Sind wir uns der Bedeutung von Sterben und Werden gewahr, der Raum-Zeit oder dem Zeit-Raum zwischen Leben und Tod? Habe wir eine Ahnung davon, welche Auswirkung es hat, wenn nur ein Einzelner von uns un-verabschiedet geht, dessen Platz leer zurück bleibt?
Das sind heikle Themen, die in unserer Gesellschaft häufig ausgeklammert werden. Doch das sind essentielle Themen, denen wir uns stellen sollten. Was wir heute tun, gerade wir, die heute hier sind: Wir stellen uns unserer eigenen Vergänglichkeit und dafür danke ich euch im Namen aller sehr!
Das Universum ist darauf ausgerichtet, jederzeit Ausgleich und Harmonie herzustellen. Das heißt: da, wo etwas fehlt, wird wo anders etwas hinzugefügt. Universell betrachtet gibt es keinen Mangel – auch wenn wir individuell Verlust und Mangel empfinden.
Wenn ein Mensch stirbt ist es natürlich keine Lösung, jemand anderen stellvertretend dafür einzusetzen. Das geht auch nicht! Jeder hat seinen eigenen Platz und kann nicht auf zwei Stühlen gleichzeitig sitzen.
Genausowenig sollten die Seelen der Verstorbenen „als Platzhalter“ hier auf der Erde ewig festkleben, unerlöst zurückbleiben und somit ihren Heimweg nicht antreten können. Auch das brächte die Ordnung durcheinander.
Wie sieht das jetzt aus, wenn ein Mensch stirbt? Wie gleicht die Schöpfungsordnung den Verlust eines Lebens aus? Wie werden die Reihen in der Menschheitsfamilie wieder geschlossen?
Das ist doch die zentrale Frage, um die es heute geht!
Im kollektiven Bewusstsein füllen wir diese Lücke mit unserer Anteilnahme, unserer Empathie. Indem wir den Menschen gedenken, sie erkennen und sehen – auch davon Notiz nehmen, dass sie leibhaftig nicht mehr unter uns weilen – tragen wir dazu bei, dass diese Lücken versiegelt werden und die Wunden heilen.
Was wir dafür brauchen ist VOR ALLEM ein offenes Herz,
mit dem wir sehen können,
mit dem wir fühlen können,
mit dem wir heilen können.
Schaut euch mal um, schaut in die Gesichter eurer Mitmenschen. Erkennt ihr ihren Schmerz, ihre Not, ihre Bedürfnisse, ihren Mangel?
Schaut euch in die Augen: das, was ihr in den Augen eurer Mitmenschen seht ist der Spiegel des großen Weltenmeeres. WIR SIND ALLE EINS, und jeder vergessene Tropfen ist sichtbar, im Schmerz und Verlust.
Das wahrzunehmen,
das zu sehen und anzuerkennen,
das zu fühlen,
das zu würdigen,
das auszuhalten,
damit in Verbindung zu sein und in Kontakt zu bleiben,
dem Gegenüber zu zeigen, ich bin da und stehe dir bei,
bis zuletzt,
Und LIEBE heilt.
Nehmen wir uns einem Moment der Stille. Werden wir uns unserer eigenen Verluste und Schmerzen bewusst, und lassen wir uns heilen von der Macht der Liebe.
Eine Sache ist uns von Ingeborg Türy doch bekannt: In ihrer Bestattungs-Vorsorge hat sie festgehalten, dass ihr Vermögen an das SOS-Kinderdorf gespendet wird.
Ein Teil von ihr sollte also doch Zukunft haben und weiterleben – und die Not von anderen heilen.
Ebenso hat sie sich drei Lieder gewünscht, die wir heute für sie gespielt haben. ‚Ave Maria‘, ‚Ich bete an die Macht der Liebe‘, und ‚Von guten Mächten wunderbar geborgen‘. Insofern ist davon auszugehen, dass Frau Türy in dem Bewusstsein lebt und geht, in Jesus ihren Erlöser gefunden zu haben und ihren Zufluchtsort in Gott.
So wollen wir sie nun heim kehren lassen, von Konstanz aus bis zur Nordsee. Dort wird ihre Asche dem Meer übergeben und den tiefen Grund ihres Dasein erreichen.
Auch all den anderen vergessenen Seelen wollen wir damit gedenken und sie mit unseren liebevollen Gedanken verabschieden mit Worten, die Menschen schon seit hunderten von Jahren trösten, mit dem Vater unser. Ursprünglich war das Gebet in aramäischer Sprache gesprochen, der Muttersprache Jesu. Doch heute möchte ich es in seiner ursprünglichen Form – jedoch ins Deutsche übersetzt, vorlesen, damit wir den wesentlichen Charakter erfassen.
Ich bitte Sie und Euch, sich zu erheben:
Vater und Mutter des Kosmos, Urgrund der Liebe!
Bereite in uns den Raum des Herzens,
dass wir Dein Licht und Deinen Klang
in Frieden erfahren.
Deine Wirklichkeit offenbare sich.
Dein Verlangen: eine Himmel und Erde,
dass wir Deine Liebe in unserer entdecken.
Gib uns Tag um Tag,
was wir an Brot und Einsicht brauchen.
Löse die Fesseln unserer Fehler,
wie auch wir freigeben,
was uns an die Verstrickung und Schuld der anderen bindet.
Führe uns in der Versuchung.
Bewahre uns vor falschem Begehren,
und befreie uns von Irrtum und Bösem.
Denn Dein ist das Reich der Liebe und des Friedens,
die Fülle des Lebens und der Klang des Kosmos,
der alles erneuert von Weltzeit zu Weltzeit.
Ich bekräftige all dies mit meinem ganzen Sein.
Amen.
Ingeborg Türy,
Du Frau aus der Mitte unserer Gemeinschaft,
Du Tochter von Eltern im Kriegsgeschehen,
Du Tropfen des großen Weltenmeeres,
Du Wesen, dem heute würdevoll gedacht,
Du Herz, das sich der Liebe öffnet,
Du Geist, der uns alle inspiriert,
Du Licht, das unser Dunkel erleuchtet,
Du Mensch, dem Dank und Gnade gebührt.
Geh voran!
Mögen die Sonnenstrahlen
dich zart locken,
möge der Wind
dich sanft vorantreiben;
mögen Regentropfen
leicht auf dein Haupt fallen.
Wir blicken dir nach!
Möge der Sonnenschein
dein Herz erleuchten.
Möge der Windhauch
die Lasten der Vergangenheit hinweg wehen.
Mögen ein Engel Gottes
dich empfangen.
Mögen Engelscharen
ein Willkommenslied anstimmen,
möge Gott dich hüllen
in den Mantel seiner Liebe.
Auch all die anderen Seelen wollen wir ins Licht entsenden: Geht nach Hause! Unser Licht, unser Mitgefühl und unsere liebevollen Gedanken sollen euch begleiten.
Kommt gut rüber!